2011
Impulsreferat zum Aktionstag anlässlich des
„Europäischen Protesttags zur Gleichstellung
behinderter Menschen“ am 05. Mai 2011
Am heutigen 5. Mai sind bundesweit wieder mehr als 100.000 Menschen im Rahmen von Veranstaltungen des Europäischen Protesttages „auf den Beinen“ und „auf den Rädern“.
Wir fügen uns mit unserem heutigen Aktionstag traditionell in diese Masse ein und so freue ich mich, viele alte, aber auch neue Gesichter unter Ihnen begrüßen zu können.
Auch der ABB e.V. pflegt seit vielen Jahren im Frühjahr diese Tradition, in diesem Jahr mit einem kleinen Jubiläum:
Zum 20. Mal veranstalten wir hier und heute unser Diskussionsforum mit Landespolitikern zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Land Brandenburg.
Neben den bereits genannten Gästen aus Politik und Landesregierung begrüße ich stellvertretend für die Weite des Landes heute ABB - Mitglieder aus Potsdam, Frankfurt (Oder), Jüterbog, Rathenow, Eisenhüttenstadt, Forst, Eberswalde
Das Motto unserer Veranstaltung lautet: Inklusion - beginnt im Kopf!
Wenn Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch vollständig und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen kann – und zwar von Anfang an und unabhängig von seinen individuellen Fähigkeiten – dann bedarf es einer Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt, die bewusst die Vielfalt anerkennt und die Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen - unabhängig von einer Behinderung - in den Vordergrund stellt. Soweit die Theorie.
Und damit die Worte „Inklusion“, „Gleichbehandlung“ und „gleichberechtigte Teilhabe“ nicht immer als abstrakte und schlecht fassbare Begriffe über uns kreisen, lassen Sie mich die Bandbreite der alltäglichen Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen an einigen Beispielen verdeutlichen: Es ist wie immer alles eine Frage der Perspektive und fängt bei vermeintlich ganz kleinen Dingen an!
Zum Beispiel morgens beim Frühstück – natürlich mit weich gekochtem Ei! 4 Minuten bitte. Eine einfache Eieruhr (oder auch Kurzzeitwecker genannt) aus Plastik kostet ab 1 €. Für eine Eieruhr mit taktilen Zeichen für Sehbehinderte bezahlt man 10 – 25 €. Eine Eieruhr für Hörbehinderte (mit Vibration und Lichtblitz) liegt bei knapp 30 €. Bemerken Sie es? Wir reden hier vom 10- bis 30-fachen Anschaffungspreis!
Gefrühstückt und gewaschen geht es dann zum Kleiderschrank – als Frau hat man gern die passenden Schuhe zum täglich wechselnden Outfit. Ein Paar Damenschuhe bekommt man ab ca. 30 €, manchmal darunter, deswegen haben viele Frauen natürlich nicht nur eins oder zwei...gern zehn oder zwanzig oder… Habe ich aber besondere Anforderungen, z. B. wegen Fußfehlstellungen, dann sind für ein Paar orthopädische Schuhe mind. 300 € fällig. Selbst wenn die Krankenkasse diese bezuschusst, wird sie dies nicht für jeweils zur Garderobe passende zehn Paar tun. Bevor es aus dem Haus geht noch schnell die E-mails gecheckt: Für ein gutes Notebook bezahlt man heute ca. 1000 €, stellenweise weniger. Ein behindertengerechtes Gerät mit entsprechender Spezialsoftware kostet um die 10.000 €.
Zugegeben, das waren jetzt alles Beispiele, die man dem „Privatleben“ zuordnen könnte – aber sie machen klar, dass dort bereits das „benachteiligt sein“ beginnt.
Dann wechseln wir also in den gesellschaftlichen Bereich: Auch dort gibt es vieles, was zunächst innovativ, ökologisch und modern daherkommt, wenn man es nur aus einem Blickwinkel betrachtet, dass jedoch nicht mehr ganz so zeitgemäß wirkt, wenn man seine Perspektive ändert.
Zum Beispiel Umweltschutz:
Da wurde vor einigen Jahren eine Pfand- und Rückgabepflicht für Getränkeflaschen eingeführt, ohne bei den eigens dafür neu entwickelten Automaten die Belange körperbehinderter oder sehbehinderter Kunden zu berücksichtigen!
Ein kleiner oder im Rollstuhl sitzender Mensch kann das Bedientableau nicht sehen und mit einem Sehbehinderten redet das Gerät erst gar nicht – von akustischer Benutzerführung keine Spur – der Automat gibt nicht mal einen Signalton von sich, alles erfolgt optisch.
Ein Hoffnungsschimmer: Es gibt Handelsketten, die haben den Rückgabeautomat wieder abgeschafft und setzen wieder „echtes“ Personal an der Flaschenrücknahme ein!
Aktuell denken viele Bundesländer über die Einführung einer gesetzlichen Rauchwarnmelderpflicht für Wohngebäude nach.
Dort, wo es schon beschlossen wurde, müssen in den nächsten Jahren alle Wohnungen in allen Zimmern nachgerüstet sein.
Auch für Gehörlose würde es also gesetzlich vorgeschrieben sein, diese Geräte in den Wohnungen zu haben.
Der Markt für solche Geräte (die im Baumarkt schon ab 10,- € zu haben sind) würde rasant zunehmen - aber hat sich in diesem Zusammenhang jemand schon mal Gedanken um gleichermaßen preiswerte Rauchmelder für Gehörlose gemacht?
Bei den zu erwartenden Mehrkosten (siehe vorhin genannte Preise) ergibt sich die Frage: Wer trägt diese? Bestimmt nicht der Vermieter!
Die Deutsche Bahn baut die Strecke zwischen Berlin – Potsdam – die Meldungen gingen durch die Presse, weil gleichzeitig auch die AVUS als wichtigste Straßenverbindung gebaut werden soll.
Für die Bahnstrecke werden seitens der DB Umsteigebahnhöfe benannt, an denen die Züge jeweils enden bzw. beginnen und an denen man in die oder aus der S-Bahn umsteigen soll.
Nur: Einige dieser Bahnhöfe sind in keiner Weise barrierefrei und mobilitätsbehinderten Reisegästen ist es gar nicht möglich, den bis dahin rollstuhlgerecht angebotenen Zug genau auf diesem Bahnhof zu verlassen bzw. auf einen anderen Bahnsteig zur S-Bahn zu wechseln!
Chaos also auch hier vorprogrammiert.
Neuartige Hybridautos verfügen über ein zusätzliches Antriebssystem, was nicht nur den Benzinverbrauch senkt, sondern bei niedriger Geschwindigkeit kaum noch zu hören ist!
Diese Autos stehen als Pseudonym für ökologisches Denken in Verkehr und Mobilität – aber stehen sie auch für Chancengleichheit?
Blinde und sehbehinderte Menschen sind darauf angewiesen, ein herannahendes Auto hören zu können, wenn sie sich selbstständig im Verkehr bewegen wollen.
Aber auch für kleine Kinder und ältere Menschen schaffen geräuschlose Autos Sicherheitsrisiken.
In den USA zum Beispiel ist man hier schon weiter: Hier hat Präsident Obama im Januar 2011 einen Erlass unterschrieben, der das amerikanische Verkehrsministerium anweist, innerhalb von 18 Monaten Vorgaben für ein „Mindestgeräusch“ zu erarbeiten.
In anderen Industrienationen ist man aus Sicht der Rechte und Gleichstellung behinderter Menschen in mancher Hinsicht weiter.
Das hat unterschiedliche Gründe. Aber möglicherweise hilft es uns in Brandenburg, stärker über den sog. Tellerrand zu schauen.
Ein alt bewährtes Mittel um weit über das Land und darüber hinaus sehen zu können, sind Aussichttürme.
Nimmt man die Zahl der zur Zeit im Land neu errichteten Aussichtstürme als Indiz, könnte man meinen, dass ganz viele Menschen nach neuen Horizonten Ausschau halten und neue Perspektiven suchen. Ein gutes Zeichen?
Erst am vergangenen Wochenende wurde wieder ein Aussichtsturm in Brandenburg eröffnet und feierlich seiner Bestimmung übergeben – in der Döberitzer Heide.
Der 13 Meter hohe Stahlturm ist das Highlight eines ehemaligen Armeegeländes, das 2004 von der Heinz Sielmann Stiftung gekauft wurde und in ein Naturparadies und Wildnis-Großprojekt entwickelt werden soll.
Vier Millionen Menschen im Umfeld sieht man als potenzielle Besucher für das Projekt. Gleichzeitig war es das erklärte Ziel des Stifters Heinz Sielmann (Zitat): „…dass man hier lange durch den Sand wandern kann und weit und breit keinen Asphalt sieht…“
Insgesamt misst das in den vergangenen Jahren so angelegte Wanderwegenetz 60 km und 13 Hauptrouten führen nunmehr sternförmig zu dem Turm, dessen Aussichtsplattform nur über 53 Stufen erreichbar ist.
Wenn man diese bewältigt hat, kann man mit etwas Glück Wisente und asiatische Wildpferde beobachten und am Horizont die Skyline Berlins.
Zynisch könnte man hinzufügen: Und am Fuße des Turmes all diejenigen, denen es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht möglich war, 53 Stufen zu bewältigen.
Neben Geldern der Sielmann-Stiftung haben auch die ILB und das Land Brandenburg den Bau des Aussichtsturmes finanziell unterstützt. Der Vorstandsvorsitzende der ILB schwärmt gar von dem „…fast 4.000 Hektar großen Kleinod…“
Ein Kleinod, in lockerem märkischen Sand, gekrönt von 53 Stufen und finanziert mit Steuergeldern und Fördermitteln.
Ein Einzelfall? Könnte man sagen. Aber Mitnichten!
Erst vor 2 Jahren haben wir den Betonkopf für einen Aussichtsturm, der Landmarke Lausitzer Seenland bei Senftenberg verliehen. Mehrwert dieser Investition für Mobilitätsbehinderte oder auch Sehbehinderte gleich Null.
Im Februar des vergangenen Jahres wurden Pläne zur Errichtung eines weiteren Aussichtsturmes – diesmal in den Götzer Bergen im Landkreis Potsdam-Mittelmark - veröffentlicht.
Die Entwürfe zeigen auch hier sehr deutlich, dass der geplante Turm für mobilitätsbehinderte Menschen nicht zugänglich sein wird.
Wir haben uns als Verband bereits im März des Jahres 2010 an den Bauherren, den Landrat des Landkreises Potsdam-Mittelmark, gewandt und unsere Sicht der Dinge dargestellt. Eine Antwort steht bis heute aus!
Auch dieses Bauvorhaben soll im Jahr 2011 mit einem finanziellen Aufwand von 450.000 EUR umgesetzt werden und mehr als die Hälfte der Baukosten wird über EU-Fördermittel für die „Integrierte Ländliche Entwicklung“ finanziert.
Am Cottbuser Ostsee (der Ostsee – nicht zu verwechseln mit „die Ostsee“) wurde im Juli 2010 der neue Aussichtsturm Bärenbrücker Höhe eingeweiht.
Der insgesamt 57 Meter hohe Turm steht auf einer Aufschüttung von Abraum aus den nahe gelegenen Tagebaustätten und trumpft (im negativen Sinne) auf mit einem innen liegenden Treppenhaus, welches auf 267 Stufen (!) zur eigentlichen Aussichtsplattform führt.
Die immense Anzahl von Stufen stört nicht nur den ABB – sicher auch viele Gäste zwischen 1 und 100 Jahren.
An diesem Beispiel wird aus unserer Sicht aber ein weiteres Problem deutlich:
Der Aussichtsturm wurde nach einem studentischen Wettbewerb, an dem sich 3 Hochschulen beteiligt hatten, als bester ausgewählt.
Der siegreiche Student wurde bei der Entwicklung seines Entwurfes und bei der konstruktiven Ausarbeitung durch die Lehrstühle Baukonstruktion und Entwerfen sowie Tragwerkslehre und Tragkonstruktion der BTU Cottbus unterstützt.
Aber wir fragen: Wo, wenn nicht an den Universitäten und Hochschulen werden die Denker und Architekten für die Bauten von morgen ausgebildet!?
Wie steht es um Design für Alle und Innovation und den Anspruch auf Nachhaltigkeit und eine hohe Qualität der Lehre und praxisnahen Ausbildung?
Bleiben wir noch kurz beim Thema Tourismus:
Aus unserer Sicht ist nicht klar erkennbar, welche baurechtlichen Vorschriften für die Errichtung von Beherbergungsstätten unter dem Gesichtspunkt des barrierefreien Bauens im Land Brandenburg bestehen. Deshalb haben wir uns als Verband an das Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft gewandt und gefragt, ob Beherbergungsbetriebe im Sinne des § 45 Abs. 3 BbgBO für die Öffentlichkeit bestimmt oder allgemein zugänglich sind und wenn ja, in welchen Teilen (Rezeption, Frühstückraum im Hotel Garni, Hotelrestaurant, Zimmer oder Zimmerflure). Außerdem wollten wir wissen, ob es im Baurecht des Landes Brandenburg eine Vorschrift gibt, die bei der Errichtung von Hotels oder Pensionen eine bestimmte Mindestzahl von barrierefrei zugänglichen Gästezimmern vorschreibt.
Ich fasse die Antwort des Ministeriums kurz zusammen:
Hotels und Pensionen hält man sehr wohl für öffentlich zugängliche Gebäude – zumindest in den Eingangsbereichen: die Rezeption, das Foyer, die Lobby und natürlich auch das Restaurant und Konferenzräume oder Ballsäle. Diese müssten barrierefrei ausgestaltet sein.
Dagegen hält man die eigentlichen Hotelzimmer und die Flure dorthin für nicht allgemein zugänglich, da dort nur bestimmte Gäste, die ein Zimmer gemietet haben, Zugang erhalten.
Demnach müsse dann auch der Frühstücksraum in einem Hotel Garni nicht barrierefrei sein, da dieser ja nur den eingemieteten Hotelgästen zur Verfügung stehen muss und wenn es keine barrierefreien Zimmer gäbe, sei es auch nicht sinnvoll, einen barrierefreien Frühstücksraum zu verlangen.
Eine solche Auslegung erzeugt bei uns erstauntes Kopfschütteln.
Wenn ein Hotel vom Grundsatz her als öffentlich zugängliches Gebäude gilt, nicht jedoch seine Zimmer - dann fragen wir uns: Worin sieht man hier die Aufgabe eines Hotels?
Fazit: Es gibt im Land Brandenburg (anders als zum Beispiel in Bayern) keine verbindliche Bauvorschrift für barrierefreie Beherbergungsstätten. Nicht ein einziges Zimmer muss barrierefrei zugänglich sein.
Demgegenüber schreibt uns das brandenburgische Ministerium für Wirtschaft und Europaangelegenheiten, dass das Thema „Barrierefreier Tourismus“ seit über 10 Jahren fester Bestandteil der Tourismuspolitik der Landesregierung sei.
Unter anderem habe man über die, durch das Land institutionell geförderte Tourismusakademie des Landes viele Workshops und Konferenzen initiiert, um dem Anspruch behinderter Menschen nach Teilhabe nicht nur verbal Rechnung zu tragen, sondern durch geeignete Maßnahmen zu untersetzen. Vielleicht sollte man das MIL mal einladen?
Und trotz dieser scheinbaren Aufgeschlossenheit werden von den Landesministerien mit mehreren Tausend Euro gefördert Tourismuspreise verliehen, die Innovation und Nachhaltigkeit in touristischen Angeboten prämieren sollen – aber kein einziges der Preiskriterien bezieht sich auf Barrierefreiheit oder Nutzbarkeit, d.h. Design für Alle!
Ja, aber habt ihr als Menschen mit Behinderungen nicht wichtigere Sorgen, als euch um Aussichtstürme und Tourismus zu kümmern?
Stimmt.
Von A wie Arztpraxen bis Z wie Zugang zu Arbeitsmarkt oder Bildung.
Und gerade weil das so ist, sollten im Flächenland Brandenburg Steuergelder und so wertvolle Hilfen wie EU - Fördergelder auch tatsächlich für die dringenden Probleme des Landes eingesetzt werden. Werden sie aber offenbar nicht.
Hier gehen eine knappe halbe Million Euro für einen nicht zugänglichen Aussichtsturm „drauf“, dort mal eben knapp 200 T€ für einen nicht erreichbaren Hotel- und Restaurantanbau anstatt für barrierefreie Schulen oder erreichbare Arztpraxen oder zugängliche und auch von Sinnesbehinderten nutzbare Kulturstätten oder ÖPNV-Angebote im ländlichen Raum eingesetzt zu werden usw. usf.
Bei einer stichpunktartigen Überprüfung des aktuellen Begünstigtenverzeichnisses (das ist die Übersicht über Empfänger von Fördergeldern des Landes) sind uns mehrere Vorhaben aufgefallen, die zum Teil mit 6-stelligen Summen gefördert wurden, im Ergebnis aber nicht ansatzweise barrierefrei zugänglich sind.
Wir halten eine solche Vergabepraxis durch die zuständigen Ministerien des Landes für unvereinbar mit den geltenden Rechtsvorschriften!
Die Durchführungsbestimmungen der EU schreiben zwingend vor, dass in jeder Phase der Programmdurchführung jegliche Diskriminierung aufgrund einer Behinderung auszuschließen ist.
Aber hier werden EU-Gelder entgegen der Zuwendungsbestimmungen verwendet!
All diese Genehmigungen stehen außerdem auch im Widerspruch zum Landesrecht, wonach gemäß § 45 Abs. 3 BbgBO für die Öffentlichkeit bestimmte bauliche Anlagen in den für den allgemeinen Besucherverkehr dienenden Teilen barrierefrei zu errichten sind.
Die Plattform eines Aussichtsturms oder ein Hotel gehören zweifelsfrei dazu – und wenn es keine technische Lösung dafür geben sollte, dann dürften solche Projekte, die nicht den geltenden Rechtsvorschriften entsprechen „können“ zumindest nicht noch gefördert werden!
Sehr geehrte Gäste,
Ja, es ist in den letzten 2 Jahren nach Inkrafttreten der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen auch im Land Brandenburg durch die Landesregierung manches angestoßen worden, mit den 5 behindertenpolitischen Regionalkonferenzen im vergangenen Jahr wurde ein richtiger und zunächst auch scheinbar erfolgreicher Weg eingeschlagen.
Am 28. Juni 2010 – also vor mehr als 10 Monaten - fand die erste in Eberswalde statt, am 20. September (auch schon fast 8 Monate her) die letzte.
Unter breiter Beteiligung von verschiedenen Akteuren und regional ausgerichtet wurde viel behindertenpolitischer Wind gemacht, der Kessel im positiven Sinne richtig und gut angeheizt - in Bewegung geraten ist deshalb jedoch Vieles noch nicht wirklich.
Dass es durchaus schneller geht bewies die Landespolitik im Zusammenhang mit dem durch den ABB im vergangenen Jahr hier an dieser Stelle aufgezeigten Problem der Erreichbarkeit von Arztpraxen in Brandenburg. Abschließende Lösungen sind zwar auch hier noch nicht erkennbar, aber man ist – auch dank des Nachhakens durch einzelne, durch uns aufmerksam gemachte Landtagsabgeordnete – mittendrin in der praktischen Diskussion!
Dieser Tage beginnen Regionalkonferenzen des Bildungsministeriums zum Thema Inklusion in der Bildung.
Die jetzt schon spürbare große Diskrepanz und Meinungsvielfalt in der öffentlich geführten Diskussion zu Pro und Kontra inklusiver Schulformen für alle Kinder macht einerseits Hoffnung auf eine konstruktive Herangehensweise, lässt jedoch aber gleichzeitig befürchten, dass wir uns noch in den nächsten Jahren in diesem Meinungsbildungsprozess befinden werden.
Bis dahin werden aber parallel weiterhin Entscheidungen gefällt und vollzogen.
Aber wie lange will man den absurden Zustand noch beibehalten, dass - trotz im Wohnort vorhandener Grundschule - gerade den schutzbedürftigsten Kindern, die wegen ihrer Behinderung ohnehin mit zusätzlichen körperlichen oder krankheitsbedingten Belastungen zu leben haben, der weiteste Schulweg mit zum Teil langen Fahrtzeiten zugemutet wird? Unser derzeitiges System der landkreisweiten Bündelung dieser Kinder in Förderschulen macht dies nötig. Bei den Werkstätten für behinderte Menschen ist es zum Teil vergleichbar.
Wer sich mal die Zeit nimmt und zu Unterrichts- oder Arbeitsbeginn bei einer Förderschule oder WfbM beobachtet, wenn dort die Transporter vorfahren und die Schüler oder Werkstattbeschäftigten aus allen Ecken des Landkreises bringen, der bekommt ein Gefühl für die logistische Meisterleistung, aber auch den damit verbundenen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Von der im Auto verbrachten Lebenszeit dieser Kinder reden wir jetzt gar nicht und auch nicht davon, dass sie oft eben leider keine Möglichkeit haben, mit Kindern aus ihrer Schule auch den Nachmittag am Wohnort beim Spielen gemeinsam zu verbringen.
Wir nehmen wahr, dass sich die Umsetzung der Vorgaben der UN-Konvention hier in Brandenburg scheinbar zeitlich ins Unkalkulierbare verzögert.
Auch an anderer Stelle hat das MASF in den zurückliegenden Wochen eher das Gegenteil von dem bewiesen, was die UN-Konvention fordert.
Wenn zum Beispiel für die Interessenvertretung behinderter Menschen wichtigste Strukturveränderungen innerhalb des Ministeriums völlig unerwartet und ohne jegliche vorherige Information des Landesbehindertenbeirates oder der Landesbehindertenverbände vollzogen werden.
Entspricht dies dem Anspruch von Artikel 4 der Konvention, wonach bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten und bei allen Entscheidungsprozessen die Menschen mit Behinderungen betreffen, mit den Organisationen behinderter Menschen enge Konsultationen geführt und sie aktiv einbezogen werden sollen?
Wir sagen: Nein!
Und parallel entwickelt sich Manches weiter zum Negativen.
Da wird der Rundfunkstaatsvertrag geändert.
Statt wie bisher eine Rundfunkgebührenbefreiung für bestimmte Gruppen besonders betroffener behinderter Menschen (über das bekannte Merkzeichen RF), wird im neuen Rundfunkstaatsvertrag dieser Personenkreis nicht mehr grundsätzlich befreit, sondern der Rundfunkbeitrag (die GEZ - Gebühr) wird nur noch auf ein Drittel ermäßigt.
Die Länder rechtfertigen das damit, dass (Zitat aus der Protokollnotiz) „…finanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderungen auch einen Beitrag zu entrichten haben, mit dem dann auch die Finanzierung barrierefreier Angebote von ARD, ZDF und Deutschlandradio erleichtert“ werden könne.
Die so zum Ausdruck gebrachte Erwartungshaltung zum Ausbau barrierefreier Rundfunk- und Fernsehangebote begrüßen wir ausdrücklich!
Sie ist gesellschaftlich längst überfällig.
Dafür jedoch eine Finanzierung durch die Betroffenen vorzusehen und dies dann auch als Begründung für die Erhebung der Gebühr heranzuziehen, macht die Betroffenen zu Finanziers einer ihnen aus dem gesellschaftlichen Kontext zustehenden Selbstverständlichkeit.
Es geht hier nicht um „arme“ oder „reiche“ behinderte Menschen – es geht hier darum, dass es schwere Einschränkungen gibt, die es einem Menschen unmöglich machen, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Hier wird ein bislang unbestrittener Nachteilsausgleich einfach abgeschafft und wir haben uns vor der Verabschiedung des Gesetzes als Verband deswegen an die Staatskanzlei und das MASF gewandt. Leider konnte oder wollte man unseren Argumenten nicht folgen und so hat auch das Land Brandenburg den Vertrag mit unterschrieben.
Das bedeutet, dass ab 1. Januar 2013 ein großer Kreis von behinderten Menschen nunmehr finanziell belastet wird, ohne dass sich an den subjektiven Ursachen für die bisherige Gewährung ihres Nachteilsausgleiches etwas geändert hätte.
Sie werden somit schlechter gestellt werden, als bisher und auch das in Zeiten der Umsetzung der UN-Konvention!
In den zurückliegenden Monaten wurden vom ABB auch die Neuregelungen in der vom MASF vorgelegten Strukturqualitätsverordnung kritisiert. Diese Verordnung regelt die brandenburgischen Anforderungen an Einrichtungen und ihnen gleichgestellte Wohnformen – also kurz: Heime und Wohnstätten.
Bisher galt die sog. Heimmindestbauverordnung, die sehr detailliert geregelt hat, welche baulichen Anforderungen an ein Heim zu stellen sind. Dort stand z.B., dass das Heim von Außen stufenlos erreichbar sein muss, wann Aufzüge erforderlich sind und dass die Fußböden rutschfest zu sein haben.
In der neuen Verordnung tauchen viele Detailregelungen zu baulichen Voraussetzungen nicht mehr auf. Das ist zum Teil nachvollziehbar, weil diese Vorschriften durch die indirekte Anwendung der DIN Normen nicht mehr gesondert genannt werden müssen.
Wichtig erscheint uns aber in § 10 der SQV eine Vorschrift, wonach der Zugang zum Heim sowie den individuell und gemeinschaftlichen Wohnflächen barrierefrei sein sollen.
Hiervon gibt es jedoch eine Ausnahmevorschrift, wonach auf Barrierefreiheit verzichtet werden kann, wenn (Zitat) „Einschränkungen der Mobilität bei dem aufgenommenen Personenkreis typischerweise nicht zu erwarten und die Abweichung ausdrücklich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern vereinbart“ worden ist.
Diese Regelung hält der ABB e.V. aus mehreren Gründen für bedenklich und nicht zeitgemäß: Bisher war eine solche Einschränkung zumindest beim barrierefreien Zugang zum eigentlichen Heimgebäude nicht vorgesehen.
Die Neuregelung ist schon deshalb ein Rückschritt.
Außerdem ist der Blickwinkel dieser neuen Formulierung ausschließlich auf die Bewohner und ihre Situation zum Zeitpunkt der Errichtung eines Heimes gerichtet. Das setzt auch voraus, dass man zum Zeitpunkt des Bauens eines Hauses bereits weiß, wer genau einzieht und dass man mit demjenigen diese Vereinbarung treffen kann.
Man vergisst auch das soziale Umfeld. Barrierefreiheit ist nicht nur erforderlich, weil der Bewohner selbst sie benötigt, sondern auch, weil z.B. die mittlerweile Rollstuhl fahrenden betagten Eltern ihr geistig behindertes erwachsenes Kind in der Wohnstätte besuchen wollen oder weil mobilitätsbehinderte Freunde zu Besuch kommen.
Weiterhin führt die Regelung zu einer Teilung des Marktes für Heimplätze in solche mit barrierefreiem Zugang und solche ohne, womit die von der Konvention geforderte Wahlfreiheit des Wohnortes für behinderte Menschen eingeschränkt wird.
Die Vorschrift widerspricht weiterhin den aktuellen behindertenpolitischen Anforderungen: Statt Inklusion oder zumindest Integration wird die Bildung von Lebensräumen und Zonen gestattet, die dauerhaft frei von mobilitätsbehinderten Menschen sind.
Nicht zuletzt wird dem Wunsch vieler Heimbewohner, möglichst dauerhaft und ohne erneuten Wohnheimwechsel bis zum Lebensende an einem Ort betreut zu werden, durch die Regelung in keiner Weise Rechnung getragen!
Denn auch geistig behinderte Menschen können im Alter einen Schlaganfall haben oder gehbehindert sein.
Der ABB e.V. hat an das Land und die Aufsicht für Unterstützende Wohnformen (früher Heimaufsicht) als auch an die zuständigen Bauaufsichtsbehörden appelliert, diese Ausnahmereglung in der Praxis nicht zur Anwendung gelangen zu lassen!
Wir werden diese wie auch alle weiteren Entwicklungen im Land weiter kritisch beobachten und begleiten.
Und wir fragen heute sogar: Wie weit sind die Interessenvertretungen behinderter Menschen im Land Brandenburg überhaupt noch beteiligt an diesem Entwicklungsprozess, an Einzelentscheidungen und Weichenstellungen – und zwar, bevor sie als Ergebnisse in das Kabinett oder den Landtag gehen!?
Derzeit sehen wir uns häufig Einladungen von Landesregierung oder Parteien gegenüber, die breit angelegt und möglichst multiperspektivisch in Foren und Veranstaltungen mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Akteuren am Tisch die Umsetzung der UN – Konvention thematisieren möchten. Aber wir fragen uns: Ist diese Art der Diskussion in Momentaufnahmen wirklich geeignet, detaillierte und praktische Lösungsansätze zu finden?
Stattdessen hören wir in solchen Runden immer wieder, dass mit der Verabschiedung der UN-Konvention nun die Bewusstseinsbildung und ein breiter gesellschaftlicher Prozess beginne.
Wer dies jedoch immer wieder als Aufhänger und Überschrift über die gegenseitigen Gespräche stellt, der tut so, als ob es in den vergangenen 20 Jahren keine Behindertenbewegung gab!
Viel, sehr viel wurde von den Interessenvertretungen behinderter Menschen hinsichtlich Sensibilisierung und Problemanalyse geleistet und wir stehen in der gesellschaftlichen Diskussion nicht am Punkt Null!
Bislang bleibt Alles aber auf der „Meta – Ebene“ mit Grundsatzstatements zu Ziel und Zweck der UN-Konvention, mit globalen Forderungen und Vorstellung ihrer Artikel– denen ja auch nicht wirklich jemand widersprechen würde.
Und um abchließend hier ein geflügeltes Wort zu verwenden: Wenn entscheidend ist, was hinten raus kommt – dann müssen wir feststellen: Nichts ist bislang heraus gekommen: Nicht mal Entwürfe für einen Maßnahmeplan oder für notwendige Gesetzesänderungen liegen uns vor, an denen man „sich reiben“, über die man konstruktiv diskutieren könnte!
Dabei sollte man nicht die Verantwortlichkeiten verwechseln: Für das Vorlegen einer Diskussionsgrundlage sind nicht die Behindertenverbände zuständig.
Hier sind die politisch Verantwortung tragenden Akteure eindeutig gefordert, das heißt, Landesregierung, Landespolitik und die Parteien müssen hier endlich konkreter werden – weg von der Propaganda, heraus aus der Theorie in die Praxis übergehen, mit uns ihre Ideen und Ansätze diskutieren und endlich mit der spürbaren Umsetzung konkreter Maßnahmen beginnen!
Mit diesem Appell und gleichzeitig Gesprächsangebot zitiere ich aus dem „Faust“, wo Goethe den Direktor sagen lässt:
Der Worte sind genug gewechselt,
Lasst mich auch endlich Taten sehn!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf eine intensive Diskussion!
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