2018

Impuls Aktionstag 4. Mai 2018

Karl Lehmann, Mitglied des Präsidiums des ABB e.V.:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

es ist wieder Mai und es ist zur guten Tradition geworden, dass wir uns in dieser Jahreszeit zu unserem Aktionstag in Potsdam versammeln, um all jene Teilhabe einzufordern, die man Menschen mit Behinderung noch immer verwehrt.

Schön, dass ihr alle da seid!

Aber eigentlich wohnen bei diesem Satz schon zwei Seelen in meiner Brust.

So sehr ich mich freue, so viele bekannte Gesichter hier im Saal zu sehen und auch das eine oder andere unbekannte – ich hoffe, unser Anliegen wird mitgenommen und unter die Leute getragen.

So sehr frage ich mich aber auch von Jahr zu Jahr, wie lange wir eine Tag wie heute noch brauchen, um etwas einzufordern, was in unserer Gesellschaft längst Alltag sein sollte.

Damit will ich nicht sagen, dass wir in den letzten Jahren nichts geschafft hätten.

Vieles ist besser geworden und an manchem haben wir mit Aktionstagen wie dem Heutigen kräftig mitgemischt.

Das eine oder andere öffentliche Gebäude hat jetzt eine Rampe. Der eine oder andere Blindenleitstreifen wurde verlegt, im Landtag sitzen hoffentlich endlich Rollifahrer und nichtbehinderte Besucher gemeinsam* auf der Tribüne des Plenarsaales und die Drehkreuze sind aus den allermeisten Supermärkten des Landes verschwunden.

Wer heute im Land Brandenburg Fördermittel beantragt oder erhält, kommt um das Thema Barrierefreiheit nicht herum

Aber es gab und gibt auch Themen und Probleme, an denen wir uns die Zähne ausbeißen, wo wir einfach nicht vorankommen und es nicht einmal in Sicht ist, dass sich etwas zugunsten von Menschen mit Behinderungen ändern wird.

Die Rampe im Plenarsaal des Landtagsgebäudes in Potsdam ist noch immer zu steil, in Brandenburg an der Havel gibt es am Bahnhof noch immer zwei Blindenleitsysteme, die sich wechselseitig ingnorieren, die Flaschenautomaten sind noch immer zu hoch und wer eine historische Innenstadt im Land Brandenburg mit dem Rollstuhl erfahren möchte, verzweifelt noch immer am breit verlegten ungeschnittenen Großkopfpflaster.

Hauptamtliche Behindertenbeauftragte in den Städten und Gemeinden sind noch immer ein Luxus, den sich die meisten Kommunen nicht leisten wollen oder aber an ihrem Dienstzimmer steht dann:
Behinderten-, Frauen-, Senioren- und Ausländerbeauftragte.

Vielen Themen Recht getan, ist eine Kunst die niemand kann!!!

Kann man da nicht verzweifeln – manche dieser kleinen Niederlagen und Dauerbrenner sind gute 20 Jahre alt!!!

Aber wer soll daran etwas ändern, wenn nicht wir selbst!!!

Und es sind dicke Bretter, die wir bohren müssen.

Alle Jahre gibt es dann verbal mal etwas Neues.

In den Neunzigern stand die Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft verbal ganz oben auf unserem Forderungskatalog aber auch auf der Liste von Worthülsen eines jeden Sozialpolitikers.

Daraus sind dann neue schicke Wörter geworden wie Paradigmenwechsel oder Inklusion.

Aber Hand aufs Herz:

Wer traut sich jetzt hier aufzustehen und in je einem Satz zu erklären, was das ist:
Paradigmenwechsel und Inklusion.

Mehr als einen Satz haben Sie in aller Regel nicht, wenn Sie durch das offene Seitenfenster ihres Autos jemanden ansprechen, der gegen jede Regel den Behindertenparkplatz blockiert.

Aus unserem schlichten Anliegen, ohne persönliche, finanzielle, bauliche oder strukturelle Benachteiligung wie jeder andere Mensch in diesem Land leben zu können, notfalls auch den einen oder anderen Nachteilsausgleich zu erhalten, ist verbal es kompliziertes geworden.

Fremdwörter, die suggerieren, das ist was für Fachleute und die sind wir.

Mir gefällt daher von allen aktuellen Begriffen die Teilhabe am besten. Das Wort kommt offen und ehrlich daher und lässt einen nicht mit vielen Fragen zurück.

Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft sagt klar, was wir wollen:

Wir wollen Teil sein, Teil dieser Gesellschaft, ein anerkannter, gleichberechtigter und selbständiger Teil

UND

Wir wollen unseren Teil auch haben, wir bitten nicht darum sondern sagen:
Her damit, mit unserem Teil und wenn nicht gleich dann aber so schnell wie möglich.

Manchmal klappt das ganz gut, manchmal eher nicht. Aber woran liegt das?

Ein paar Gründe und Beispiele fallen mit dazu schon ein:

1.In vielen Fällen sind wir nicht auf gleicher Höhe und kämpfen nicht mit gleichen Waffen.

Wir haben erreicht, dass wir an vielem beteiligt werden. Ein Erfolg, um den wir lange gekämpft haben.

Wir werden gefragt, wenn eine ganze Bahnstrecke im Land Brandenburg einschließlich jeden Meter Gleises, jedem Bahnübergang und jedem Bahnhof oder Haltepunkt neu gemacht wird. So geschehen zum Beispiel beim Neubau der Strecke Berlin – Cottbus.

Die Ministerien schicken uns über den Landesbehindertenbeirat die Dokumente wichtiger Gesetzgebungsvorhaben mit der Aufforderung: beteiligt Euch!
So geschehen bei der Neufassung der Brandenburgischen Bauordnung.

Ergebnis sind im ersten Fall dann Dutzende Ordner, dicht gefüllt mit Plänen, Berechnungen und Bauzeichnungen, im zweiten Fall mehrere hundert Seiten dichtbeschriebener Seiten mit Begründungen und Erläuterungen.

Spätestens an dieser Stelle weiß man dann:

Man kann Rechte verweigern, man kann sie aber auch unter Massen von Papier versenken.

Kein Behindertenverband hat in derartigen Situationen die personellen Möglichkeiten, seinem Gegenüber in der Stadt, dem Kreis oder Land tatsächlich auf Augenhöhe zu begegnen.

Wir sind auch keine Lobbyverbände, hinter denen finanzkräftige Unternehmen stehen, unsere Mitglieder wissen in aller Regel mit dem Begriff Spitzensteuersatz wenig anzufangen.

Wer Teilhabe wirklich will, für uns selbst, aber auch für eine gerechte, soziale und friedliche Gesellschaft insgesamt, muss daran interessiert sein, dass diese Teilhabe nicht als formeller Akt abgehakt wird.
Er muss das Ergebnis – die Meinung der Betroffenen – mehr schätzen als die lästige Formalie.

2.Die Dinge sind komplexer geworden.

Viele Menschen mit Behinderung kennen das Problem und erfahren es am eigenen Leibe. Sie scheitern aber daran, dieses Problem genau an jener Stelle anzubringen, an dies es gehört. Auch dazu ein Beispiel:

Wer mit den roten Doppelstockzügen des Regionalexpresses im Lande unterwegs ist, freut sich darüber, dass die Züge über eine Behindertentoilette verfügen und auch Stellplätze für Rollifahrer vorhanden sind. Schön wenn es dann auch noch eine barrierefreien Bahnhof gibt und schon kann die Reise beginnen.

Gleich zwei barrierefreie Lösungen, was kann schon schiefgehen!

Vieles, denn die Deutsche Bahn AG baute und baut alle Bahnhöfe auf Bahnsteighöhen von 76 cm um- und aus. Das sieht das Bahnsteighöhenkonzept der Deutsche Bahn so vor. Schon heute steigt die Mehrzahl der Reisenden im Land Brandenburg an Bahnsteigen mit einer Höhe von 76 cm ein oder aus.

Leider haben gerade die auf den am meisten frequentierten Linie eingesetzten Doppelstockzüge eine Einstiegshöhe von lediglich 55 cm – im Bahnsprech heißt das dann Tiefeinsteiger.

Lockere 21 cm vom Bahnsteig bis zur Türkante sind dann schon mal eine Hausnummer. Wer dann noch weiß, dass es auch ab Türkante bis zur Mitte des Waggons ein ganzes Stück nach unten geht, merkt schnell:

Das ist zu steil für eine Rollirampe, die man dann ohne Gefahr für Leib und Leben berollen kann.

Und so sitzt der im wahrsten Sinne geneigte Rollstuhlfahr an der Tür und fragt sich:
Wer trägt für diesen Schlamassel eigentlich die Verantwortung?
Wann wird das endlich geändert?

Wenn er das dann richtig angehen will, verliert er sich in einem Bermudadreieck von Zuständigkeiten. Vom Eisenbahn-Bundesamt über die Deutsche Bahn AG mit all ihren Töchtern bis zum Land Brandenburg als Auftraggeber und Besteller des schienengebundenen öffentlichen Nahverkehrs.

Wann das geändert wird?
Vorerst nicht. Die aktuellen Ausschreibungen für die nächsten Jahre sehen vor, dass die Hauptstrecken mit Doppelstockzügen befahren werden. Das sind Tiefeinsteiger und die Bahnsteige sind gut zwanzig Zentimeter höher.

Fahrzeuggebundene Einstiegshilfen, die diesen Höhenunterschied ausgleichen, gibt es am vorhandenen Fahrzeugmaterial nicht.

Vorgeschrieben ist auch bei den aktuellen Ausschreibungen eine „technische Einstiegshilfe“ die Höhenunterschiede vom Fahrzeug zum Bahnsteig überwinden soll. Welches Gefälle diese Einstiegshilfen letztlich haben sollen, ist den Ausschreibungsunterlagen nicht zu entnehmen. – Wir bleiben dran!

3.Und schließlich fehlt es schlicht und einfach in unserer heutigen Gesellschaft noch immer an der Bereitschaft, sich den Problemen von Menschen mit Behinderung zu öffnen.

Auch dazu ein aktuelles Beispiel:

Seit dem 1. Januar diesen Jahres gibt es eine vom Gesetz vorgeschriebene Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung, die flächendeckend in ganz Deutschland aufgebaut wird.

Sie soll unabhängig von den Ämtern sein, die letztlich Leistungen zur Teilhabe finanzieren müssen.
Die Beratung soll aber auch unabhängig von jenen Trägern sein, die solche Leistungen auf dem Markt selbst anbieten und mit entsprechenden Einrichtungen Geld verdienen.
Und nicht zuletzt: Beraten sollen Betroffene!

Die Behindertenverbände haben viele Jahre um eine solche Beratungsstruktur gerungen. Sie haben erläutern und letztlich auch überzeugen können, dass eine Beratung nur dann wirklich unabhängig sein kann, wenn der Berater wirklich unabhängig sein kann und sein muss.

Es gibt sie jetzt, die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung und nebenbei gesagt – der ABB ist mit dabei.

Ein Grund zu Freude, aber man spürt ein nicht mehr ganz leichtes Lüftchen, dass den neuen Beratungsstellen und Beraterinnen entgegenweht.

In der einen oder anderen Behördenstube ist das Unverständnis groß:

Das machen wir doch seit Jahren und viel besser! Was soll das alles eigentlich?
Wie wollen die das denn machen? Die haben doch keine Ahnung?  heißt es mal offener mal versteckter über die Amtsflure.

Und dann ist es wieder da, das alte Bild des unmündigen Menschen mit Behinderung als Gegenstand staatlicher Fürsorge, die schon weiß, was den Betroffenen guttut.
Die gleiche staatliche Fürsorge, die dann fassungslos und mit Unverständnis ob der undankbaren Behinderten reagiert, wenn man selbst seinen Anspruch auf Teilhabe einfordert.

Das dürfen wir nicht mehr zulassen!

Wir sind noch immer die besten Experten in eigener Sache und wir wollen unseren Teil haben:

unseren Teil an dieser Gesellschaft,
unseren Teil an ihren Vorzügen aber auch an ihren Problemen

Nichts anderes heißt Teilhabe und genau deshalb sind wir heute hier!!!

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!


PS.: Im Landtag hat sich im Plenarsaal noch nichts geändert: die behinderten Besucher werden immer noch separiert und nicht inkludiert!

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