2019

Impuls Aktionstag 3. Mai 2019

Christin Streiter, Leiterin der Geschäftsstelle des ABB e.V.:


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freunde,

für viele von ihnen ist die Teilnahme am Europaweiten Aktionstag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung eine langjährige Tradition.

Ich hingegen stehe heute das erste Mal an diesem Tag an dieser Stelle und möchte mich daher all jenen, die mich noch nicht kennengelernt haben, vorstellen

(…)

Das Präsidium des Allgemeinen Behindertenverbandes hat mich beauftragt, zum Auftakt unseres Aktionstages einige Impulse zu setzen.

Wie steht es mit der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Land Brandenburg?

Was muss noch getan werden? Was sind unsere Forderungen?

Vor wenigen Tagen hat die Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung Frau Dr. Mandel dem Landtag einen ersten Bericht über die Umsetzung des Landesbehindertengleichstellungsgesetzes erstattet.

Dieser Bericht betrifft den Zeitraum von 2013 bis 2018 und damit in erster Linie die Amtszeit ihres Vorgängers im Amt, Herrn Jürgen Dusel.

Der Allgemeine Behindertenverband ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass er allzu großzügig mit seinem Lob umgeht.

In einem Punkt ist ein solches Lob hier aber durchaus geboten.

In den zurückliegenden Jahren ist es auch durch die Aktivität des Landesbehindertenbeauftragten gelungen, das Anliegen der Gleichstellung in die verschiedenen Ministerien der Landesregierung zu tragen.

Die dazu vorgelegten Maßnahmepakete 2011 und 2016 mag man im Einzelnen kritisch diskutieren und bewerten. Uns geht vieles nicht weit genug und nicht schnell genug.

Dass es aber zumindest im Maßnahmepaket 2011 gelungen war, alles Ressorts zu beteiligen, war unbestritten ein Erfolg.

Der jetzt vorgelegte Bericht deutet aber auch an, dass dieser Erfolg nicht unangefochten ist. Einmal Errungenes droht zu zerrinnen. So lesen wir zumindest den Satz, dass bei der Erarbeitung des Maßnahmepaket 2016 die erforderlichen Abstimmungen und Klärungen auch an Ressortgrenzen stießen.

Das heißt wohl nichts anderes, als dass die Bereitschaft einzelner Ministerien zur konstruktiven Mitarbeit am Maßnahmepaket 2016 nur noch eingeschränkt gegeben war.

Das ist kein gutes Zeichen für die Zukunft.

Dem liegt aber auch ein strukturelles Problem zugrunde.

Die Anbindung des Amtes der Landesbehindertenbeauftragten an das Sozialministerium schwächt die Durchsetzungskraft des Amtsinhabers gegenüber anderen Ressorts.
Es bleibt daher unsere Forderung, das Amt des Landesbehindertenbeauftragten aus der Anbindung an das Sozialministerium herauszulösen und bei der Staatskanzlei bzw. dem Landtag anzusiedeln.

Wir würden uns auch wünschen, das Amt des Beauftragten in personeller Hinsicht zu stärken. Mehr als 600 Anfragen in ca. drei Jahren an den Landesbehindertenbeauftragten zeigen, dass es einen großen Bedarf unter Betroffenen gibt.

Sie erhoffen sich in vielen Fällen nicht nur Informationen, sondern auch eine konkrete Einflussnahme des Beauftragten auf die Bearbeitung ihres konkreten Einzelfalls durch Behörden und Gerichte.

Zugegebenermaßen man diese Erwartung in vielen Fällen nicht erfüllen können.
Die gegebenen Strukturen ermöglichen es der Landesbehindertenbeauftragten nicht, direkten Einfluss auf laufende Verwaltungs- oder gar gerichtliche Verfahren zu nehmen.

Gleichwohl würden wir uns wünschen, dass die Landesbehindertenbeauftragte zukünftig in größerem Umfang als bisher ihr Amtsvorgänger im Einzelfall für Betroffene gegenüber Behörden und Gerichten tätig wird.
Ein Schreiben der Landesbehindertenbeauftragten wird von staatlichen Institutionen zumindest als Zeichen wahrgenommen, dass Behördenhandeln über das Verhältnis zum Bürger hinaus durch einen Vertreter der Landesregierung unter Beobachtung steht.
Dieser Aspekt sollte praktisch nicht unterschätzt werden.

Wenn der Landesbehindertenbeauftragte bei mehr als 600 Anfragen nicht in einem einzigen Fall von seinem Recht auf Akteneinsicht Gebrauch gemacht hat, dann mag dies mehr fehlenden personellen Ressourcen geschuldet sein, als der sachlichen Notwendigkeit einer solchen Einsicht in die Akte.

Wenn wir dies ändern wollen, dann wird man das Amt der Landesbehindertenbeauftragten personell entsprechend stärken müssen.

Dass dies möglich ist, zeigt das Beispiel Berlin.
Die dortige Landesbehindertenbeauftragte verfügt über ein Büro mit Büroleiterin und Sekretariat sowie drei weitere Stellen.

Der jetzt vorgelegte Bericht ist eine ehrliche Bewertung der Wirksamkeit des Landesbehindertengleichstellungsgesetzes.

Tatsächlich muss man allerdings auch konstatieren, dass dieses Gesetz die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung nicht so umfassend geändert hat, wie die Betroffenen sich dies erhofft hatten.

Lassen Sie mich dazu ein Bild benutzten:

Stellen Sie sich die Landesregierung als ein großes Gebäude mit vielen Etagen und Fluren vor. Es gibt einen Flur, in dem es um Soziales geht, in einem anderen kümmern sich die Mitarbeiter um die Wirtschaft.

Für jeden dieser Flure gibt es jeweils einzelne Regeln,
die die dort tätigen Mitarbeiter auch bis ins Detail gut beherrschen.

Mit der Verabschiedung des Landesbehindertengleichstellungsgesetzes hat der Landtag eine neue Regel aufgestellt.

Um in unserem Bild zu bleiben, hat man diese Regel gleich im Eingangsbereich des großen Hauses der Landesregierung an die Wand gepinnt.

Alle Mitarbeiter gehen täglich an dieser Regel vorbei zu ihrem Büro, in dem sie dann wieder ausschließlich die Vorschriften ihres Fachgebietes anwenden.

Es muss uns – sinnbildlich - gelingen, das Landesbehindertengleichstellungsgesetz in die einzelnen Flure zu transportieren und in jedem Büro an die Wand zu heften.

Unsere Erfahrungen – insbesondere mit dem Ministerium für Infrastruktur und Landesplanungen – zeigen, dass die Forderungen von Betroffenen und ihren Verbänden nur dann wahrgenommen und aufgegriffen werden, wenn sie fachlich fundiert und an Hand konkreter Rechtsvorschriften vorgetragen sind.

Mit Allgemeinplätzen diskreditieren wir uns ebenso, wie mit Unkenntnis staatlicher Strukturen und Verantwortlichkeiten.
Es macht schlicht wenig Sinn auf Landesebene Probleme sachlich und fachlich diskutieren zu wollen, die in die Verantwortung des Bundes oder der Kommunen fallen.

Akzeptanz erwirbt man durch Kompetenz und – auch das sei nicht verschwiegen – auch durch öffentlichen Druck.

Dieser Aufgabe wollen wir uns stellen.

Bekanntlich sind wir ein Verband, der sich besonders intensiv um die Barrierefreiheit im Bereich des Bauens und des öffentlichen Personennahverkehrs sorgt.

Hier gibt es für die kommenden zweieinhalb Jahre einen Schwerpunkt unserer Tätigkeit.

Bis zum 31.12.2021 soll der gesamte öffentliche Personennahverkehr mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen vollständig barrierefrei sein.

Das ist keine Forderung der Behindertenverbände und Betroffenen sondern geltendes Recht. Im Personenbeförderungsgesetz des Bundes heißt es dazu in § 8 wörtlich:

Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.

Schauen Sie genau hin.
Das Gesetz spricht nicht von weitgehender sondern von vollständiger Barrierefreiheit.

Diese Regelung ist am 01.01.2013 in Kraft getreten.

Seit mehr als sechs Jahren wissen daher alle Beteiligten, was zu tun ist.

Wir haben allerdings nicht den Eindruck, dass das erforderlich im Land Brandenburg mit dem notwendigen zeitlichen Druck auch umgesetzt wird.

Dazu zwei Beispiele:

Das Land Brandenburg fördert nach einem erfolgreichen Modellprojekt in der Uckermark den sogenannten KombiBus.

Dieses Modell sieht vor, dass Busse, die üblicherweise nur zur Beförderung von Fahrgästen mit deren Gepäck bestimmt sind, auch zum Transport von Waren und Gütern genutzt werden.

Insbesondere in dünn besiedelten Gebieten des Landes sollen solche Angebote mit finanzieller Unterstützung des Landes ausgebaut werden.

Die uns bekannten Linienbusse, die auch zur Beförderung von mobilitätsbehinderten Menschen mit Rollstuhl oder Rollator bestimmt sind und deshalb über eine Absenkung mit Rampe verfügen, ermöglichen keine Mitnahme von Waren.

Reisebusse dagegen schon. Bei ihnen erreicht man allerdings des eigentlichen Fahrgastraums nur über Stufen und gewinnt im Gegenzug Stauraum unterhalb der Sitzfläche.

Fördert das Land Brandenburg damit den Ausbau eines Mobilitätskonzeptes, das von vornherein nicht barrierefrei realisierbar ist?

Dieser Schluss liegt nahe.

Werfen Sie einen Blick auf das Foto aus der Schweriner Volkszeitung vom 22.01.2018.

Es stammt aus einem Artikel mit dem Untertext:

Der in der Uckermark „erfundene“ Kombibus ist kaum zu bremsen.
Bundesweites Vorbild für ländliche Regionen

Das Foto ist mit dem Untertext veröffentlicht:

Viel Stauraum: Die Busfahrerin der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft überprüft den Inhalt einer Kiste für den Transport im Linienbus

Aus unserer Sicht ist das nicht die Zukunft des Öffentlichen Personennahverkehrs.
Die durch Landesförderung bewusst ausgebauten Angebote werden nicht barrierefrei sein und widersprechen damit den Vorgaben des Personenbeförderungsgesetzes.

Wir haben unsere Sorge mit dem zuständigen Ministerium des Landes geteilt.
Dort sieht man keinen Grund zum Nachdenken. Immerhin handele es sich beim KombiBus nur um ein zusätzliches Angebot.

Diese Auffassung halten wir für abwegig.
Wenn der Öffentliche Personennahverkehr bis zum 31.12.2021 vollständig barrierefrei sein muss, dann wird man entweder die gerade aufgebauten KombiBus-Projekte einstellen müssen oder sehenden Auges gegen das Gesetz verstoßen.

Sorge machen uns auch die sogenannten Bedarfsverkehre, auch bekannt unter dem Schlagwort Rufbus oder Anrufsammeltaxi bzw. Linientaxi.

Sie lösen in dünnbesiedelten Gebieten zunehmen den regulären Linienbus ab.

Gemeint ist damit der Einsatz von Kleinbussen oder Taxis auf regulären Buslinien des ÖPNV. Beim bedarfsabhängigen Linienverkehr muss sich der Fahrgast zuvor mit Angabe der Einstiegs- und Ausstiegshaltestelle anmelden.

Die Nahverkehrspläne der Kreise sehen häufig den Ausbau derartiger Angebote vor.

Im Nahverkehrsplan des Kreises Uckermark für den Zeitraum bis 2019 heißt es beispielsweise:

In die Angebotsgestaltung sollen verstärkt bedarfsgesteuerte Angebote zur Ergänzung und Teilablösung konventioneller Linienverkehre, insbesondere in Räumen und Zeiten schwacher Fahrgastnachfrage sowie als Zu- und Abbringer von Verkehren der Hauptachsen, implementiert werden.

Die Erfahrungen in anderen Bundesländer zeigen aber, dass die für derartige Bedarfsverkehre eingesetzten Fahrzeuge in aller Regel nicht barrierefrei sind.

Trotzdem fördert das Land Brandenburg auch diese Verkehrsformen durch Zuweisung von Mitteln.

Wieso werden durch das Land Angebote finanziell gefördert, mit denen sich ein barrierefreier Öffentlicher Personennahverkehr mit großer Wahrscheinlichkeit gerade nicht realisieren lässt?

Weder die Fördermittelvergabe für die KombiBus-Projekte noch die Förderung der Bedarfsverkehre ist an das Kriterium der Barrierefreiheit geknüpft.

Als das lässt nicht gutes Erwarten.

Wir befürchten, dass sich das Land Brandenburg der seit Jahren bekannten Verpflichtung zur Schaffung eines vollständig barrierefreien Öffentlichen Personennahverkehrs durch eine juristische Hintertür entziehen wird.

Ganz versteckt am Ende des Personenbeförderungsgesetzes findet sich diese Hintertür.

In § 62 Abs. 2 PBefG heißt es bezogen auf die Verpflichtung zur Schaffung eines vollständigen ÖPNV bis zum 31.12.2021 wörtlich:

Soweit dies nachweislich aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen unumgänglich ist, können die Länder den in § 8 Absatz 3 Satz 3 genannten Zeitpunkt abweichend festlegen sowie Ausnahmetatbestände bestimmen, die eine Einschränkung der Barrierefreiheit rechtfertigen.

Wir sehen es als unsere Aufgabe an, eine solche Verschiebung im Land Brandenburg politisch unmöglich zu machen.

Dieses Thema jetzt in die Öffentlichkeit und damit in den Fokus der Landespolitik gebracht werden.

Dazu werden wir jede Unterstützung brauchen können, die uns gewährt wird.

Wir brauchen dazu auch Euch, als unsere Mitglieder in den Orts- und Kreisvereinen.

Wenn sich das Land Brandenburg einer seit Jahren bekannten und planbaren gesetzlichen Vorgabe zur Schaffung eines barrierefreien Öffentlichen Personennahverkehr entzieht, dann schadet das den Interessen von Menschen mit Behinderung,
fördert die Politikverdrossenheit und
beschädigt nicht zuletzt das Demokratieverständnis weiter Teile der Bevölkerung.

Lasst uns alle zusammenarbeiten, dass es dazu nicht kommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit


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